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Sonntag, 25. März 2018

Sri Aurobindo: Der Mensch kann ohne eine innere Wandlung mit der gigantischen Entwicklung seines äußeren Lebens nicht mehr fertig werden.

Weil ich mit einer Bekannten mich über die Religion östlicher und westlicher Provenienz auseinandersetzte, las ich über einige Stunden in der sogenannten Agenda von Mirra Alfassa, genannt die Mutter, jene Frau, mit der Sri Aurobindo mehr als zwanzig Jahre zusammenwohnte und -lebte und die er als Erscheinung der Göttlichen Mutter bezeichnete (womit ich gewisse Schwierigkeiten habe); ich finde die Agenda über doch einige Strecken nicht unbedingt empfehlenswert, weil inhaltlich für mich bisweilen zu oberflächlich und  begrifflich zu ungenau, gerade auch, was die spirituellen Aspekte betrifft. Deshalb las ich Auszüge des Avatars selbst [ein Avatar ist für die meisten heute in erster Linie eine künstliche Person oder Grafikfigur des Internet,  doch ist er, seiner ursprünglichen Bedeutung gerecht werdend, eine übermenschliche geistige Wesenheit, deren einige immer wieder sich auf der Erde inkarnierten und inkarnieren - so Sri Aurobindo und die Mutter (wenn es stimmt) -, um deren spirituelle Entwicklung zu fördern].

Schon die Bemerkungen Sri Aurobindos zu Verstand und Vernunft und dem, was Menschen als Religion bezeichnen, fand ich gut, und treffend hat er in Life divine II,28 bereits vor mehr als 60 Jahren die Situation der Menschheit erfasst. Mittlerweile stehe ich dem Buch und Sri Aurobindo zwar erheblich skeptischer gegenüber [> https://goo.gl/Efuf4w ], dennoch aber finde ich, was er an dieser Stelle schreibt, bemerkenswert:

Zur Zeit macht die Menschheit eine evolutionäre Krise durch, in der die Möglichkeit verborgen ist, ihr Schicksal zu bestimmen (...) man hat eine Stufe erreicht, auf der der menschliche Geist in bestimmten Richtungen außerordentlich hoch entwickelt ist, während er in anderer Hinsicht befangen und verwirrt dasteht und seinen Weg nicht mehr finden kann. Der dauernd tätige Geist und der ständig aktive Lebenswille des Menschen haben für seine mentalen, vitalen und körperlichen Ansprüche und Bedürfnisse einen äußeren Zivilisationsapparat von unlenkbarer Größe und Verzwicktheit aufgebaut, eine verwickelte politische, soziale, verwaltungstechnische, wirtschaftliche und kulturelle Maschinerie, ein Kollektivmittel zu seiner intellektuellen, gefühlsmäßigen, ästhetischen und materiellen Befriedigung {unter dem Vital versteht Aurobindo den Teil unserer Lebensnatur, der sich auf Empfindungen, Gefühle, Verlangen, Leidenschaften und Energien des Handelns bezieht} Der Mensch hat ein System der Zivilisation geschaffen, das für sein beschränktes mentales Verfassungsvermögen und für seine noch beschränktere spirituelle und moralische Kapazität zu groß geworden ist, um benutzt und beherrscht werden zu können, und das ein viel zu gefährlicher Diener für sein törichtes Ego und dessen hungrige Gelüste ist (...)
Diese neue Fülle an Mitteln des Lebens könnte, weil von dem unaufhörlichen und unbefriedigenden Druck der wirtschaftlichen und physischen Not befreit, eine Gelegenheit bieten, andere, größere Ziele zu verfolgen, die über das materielle Dasein hinausgehen, eine höhere Wahrheit, ein höheres Gutes und eine höhere Schönheit zu entdecken, einen größeren und göttlichen Spirit, der Einfluss auf das Leben nähme, um eine höhere Vollkommenheit des Wesens zu bewirken. Statt dessen wird diese Fülle benutzt, einerseits um neue Bedürfnisse zu wecken, andererseits für aggressive Expansion des kollektiven Ego. Gleichzeitig hat die Wissenschaft dem Menschen viele neue Möglichkeiten der universalen Kraft erschlossen und das Leben der Menschheit in materieller Hinsicht vereinheitlicht. Aber diese universale Kraft wird von einem kleinen menschlichen individuellen Ego benutzt (...) Das einzige Ergebnis ist ein Chaos von zusammenprallenden mentalen Ideen und Trieben, von individuellen und kollektiven Bedürfnissen und Nöten physischer Art, von vitalen Ansprüchen und Wünschen, Impulsen unwissender Lebenstriebe, von Hunger und dem Ruf nach Lebensbefriedigung einzelner Menschen, Klassen, Nationen. Ein üppiger Nährboden für politische, soziale und wirtschaftliche Geheimrezepte und Anschauungen, ein brodelnder Mischmasch von Schlagworten  und Allheilmitteln, für die die Menschen sich gegenseitig zu unterdrücken und unterdrückt zu werden bereit sind, zu töten und getötet zu werden, um sie irgendwie mit den ungeheuren und viel zu fruchtbaren, ihm zur Verfügung stehenden Kräften  durchzusetzen, im Glauben, dass dies sein Ausweg sei.
(zitiert nach Sri Aurobindo, Das Göttliche Leben auf Erden, Mirapuri-Verlag).

Sri Aurobindo stellt fest, dass der kleinliche menschliche Geist den notwendigen Wandel nicht zu leisten vermag. Wenn der Mensch überleben soll, sei eine radikale Transformation der menschlichen Natur unumgänglich, denn die Konflikte lassen nicht nach, sie vervielfältigen sich eher. - Prophetische Worte, die sich heute mehr denn je bewahrheiten. - Um zu einer Lösung  zu gelangen, müsse der Mensch erst einmal erkennen, dass Intellektualität etwas anderes ist als Spiritualität und dass eine größere Kraft danach strebt aufzutauchen. Sein integraler Yoga will diese Kraft vermitteln.

Ich bezweifle nicht, dass dies dieser Yoga leisten könnte, doch lässt sich für unsere Breiten festhalten, dass diese Kraft bereits vor 2000 Jahren aufgetaucht ist und ihre wesentliche Erkenntnis darin besteht, dass der Mensch von seinem kleinkarierten Ego abrücken muss - im Bild des Christentums: Der Mensch muss sein Ego zu Kreuze tragen, damit ein neues Bewusstsein auferstehen kann.

Momentan erscheint es so, als ob die Menschheit und die europäische Bevölkerung im Speziellen nicht dazu bereit sei, sich dieser Tatsache bewusst werden zu wollen. Wenn man sieht, wie in den Parteien die Politiker ihrem Ego frönen, wenn man mitbekommt, welche horrenden Summen Top-Manager einstreichen - nicht wenige erhalten über 10 Millionen pro Jahr, während das vor kurzem um 35 € erhöhte Kindergeld den Armen von ihrem Hartz IV abezogen wird (man muss sich das mal vorstellen) - und dass die Gesellschaft diese kriminellen Zustände (ich kann es nicht anders bezeichnen, es ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit) mitmacht, dann ist diese noch weit entfernt von Veränderung, gar einer Veränderung auf dem Hintergrund eines spirituellen Bewusstseins, das einschließt, dass man Menschen nicht so darben lässt, während andere nicht wissen, wohin sie sich das Geld schieben sollen.

Ich persönlich stehe dem Integralen Yoga eines Sri Aurobindo eher fern, weil mir schon dessen Begrifflichkeiten nicht sonderlich zusagen, wenn von Atman, Jivatman und Brahman die Rede ist, von Purusha und Pakriti, der Seele  und der Natur also, von Shakti, gemeint ist die Pakriti, die von Purusha beseelt wird - von Sat, Chit und Ananda, also von Sein, Bewusstsein und Seligkeit, vom Urbildgeist (overmind) und dem höheren Kräftespiel, bestehend aus Supramental und Gnosis, von Idee und Realidee, die dem Supramental angehört.
Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum sich Aurobindo eines solchen Mischmaschs von Begrifflichkeiten bedient.

Ich fände es sinnvoller, die Menschen in Deutschland würden zum Beispiel die einfache Wahrheit verstehen wollen, dass - man denke an die Kreuzesinschrift INRI, was Jesus Nazarenus Rex Judaeorum bedeutet - die Menschen also würden verstehen wollen, dass allein das Wort ICH die Initialen von Jesus Christus vermittelt und dass das kein Zufall ist. Dass also ein Wort, das uns alle so prägt und täglich durch den Tag begleitet, einen durch und durch spirituellen Hintergrund besitzt, der, kein Zufall, mit Mose und seiner Begegnnung mit dem ICH BIN der ICH BIN zu tun hat, jenem Gott, der sich diesem großen Mann im Feuer des Dornbuschs zeigte, einem Geschehen, von dem die meisten Kinder nichts mehr wissen. Dazu tragen auch unsere Politiker bei, die zwar immer von christlichen Werten sprechen, aber nie verstanden haben, dass ihr EGO nichts zu tun hat, ja sogar in heillosem Kontrast zu jenem ICH steht, dessen Bewusstsein die Menschheit auf einen neuen Weg führen kann, ansonsten die nächste Sintflut droht, die sich nicht von ungefähr schon ankündigt.

Keine Frage ist, dass der westliche Mensch auf das ICH fokussiert ist, hinter und in dem sich sein großes SELBST verbirgt, das die Germanen in dem Weltenbaum Iggdrasil (Ich-Träger) erfassten, der sich über alle Himmel erstreckt. Hinter dem nun, was wir als ICH bezeichnen, verbirgt sich in der Weiterentwicklung des Menschseins jedoch nicht mehr wie zu früheren Zeiten der jüdische Gott Jahwe, dem wir es - und das war die weltgeschichtliche Mission der Juden - verdanken, dass der Mensch dieses Ich-Bewusstsein als Träger seiner Entwicklung erkannte, sondern nach Golgatha ein unendlich erweitertes Bewusstsein. Vermutlich ist der Integrale Yoga - ich kenne ihn zu wenig - auch auf dieses Bewusstsein hin angelegt, ich empfinde aber die Klarheit des Weges, wie sie sich in den Stufen der Entwicklung von Jesus im Johannes-Evangelium (Fußwaschung, Versuchung, Gethemane usw.) zeigt und in dieser unendlich wichtigen Mythe von Parzival für das Bewusstsein des Abendlandes sinnvoller.

Ich vermute, wie gesagt, beide Wege führen zum Ziel, der Weg des Integralen Yoga und der Parzival- oder Christusweg, wie man ihn auch immer nennen mag.

Mir persönlich scheint Letzterer dem Abendland viel mehr zu entsprechen, weil er mehr auf Bewusstsein und Erkenntnis setzt, was der Mentalität der Menschen unserer Zeit und unserer Breiten entpricht und meines Erachtens für ihre Entwicklung zielführender ist.

Letztendlich scheint sich für die meisten diese Frage nicht zu stellen. Wem sie sich stellt und wer sich ihr stellt, ist wohl auf dem Weg zum Gral unterwegs.

mehr zu Sri Aurobindo: hier

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