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Mittwoch, 20. Dezember 2017

"Ein schwindelnd All von Sternen gleichen Baus" - Werner Zemps Gedicht "Schnee"

Von Werner Zemp (1906-1959) kenne ich nur dies eine Gedicht, wiewohl er - vor allem wohl in der Schweiz - durchaus bekannter gewesen sein mag.

Die folgenden Zeilen berühren mich immer sehr, wenn ich sie wieder einmal lese, weniger durch ihre dichterische Qualität, die durchaus, finde ich, vorhanden ist, als vielmehr durch eine Ehrlichkeit, die das lyrische Ich in seinen Worten vermittelt. Da ist ganz viel Authentizität, die sich sonst in diesem Ausmaß selten mitvermittelt, wenn es unter anderem sich einer Wortneuschöpfung bedient, der Sternentrauer, um seine Stimmung wiederzugeben:

Schnee

Als ich ans Fenster trat, begann´s zu schnein:
Vom Fenster aus kann ich den Garten sehn,
Den Hauch versunkner Sommer fühlen,
Bald werden wieder blau die Lilien blühen,
Ein alter Mann wird zwischen Blumen stehn.
So viel geschieht, und niemand weiß den Grund:
Zuhöchst sah ich´s gleich Bienenschwärmen wallen
Und dann wie Blüten durch die Bäume fallen
Und jäh verlöschen, Stern für Stern, am Grund.
Dann nichts mehr - nur noch abertausend Flocken,
Ein schwindelnd All von Sternen gleichen Baus.
Wie letztes Jahr bin heftig ich erschrocken
Was je mir war, lösch in der Hand mir aus.
Vielleicht lebt ich - wer weiß? - zu lang allein.
O Sternentrauer jenseits aller Namen!
Wir spannen noch das Nichts in einen Rahmen -
Als ich ans Fenster trat, begann´s zu schnein.

Beeindruckend finde ich jene Stelle, als von Schneeflocken bildhaft als Bienenschwärmen die Rede ist, und in der Folge von Schneeflocken als Sternen, was sicherlich auf ihre Kristallstruktur Bezug nimmt. Da mag man gern über den Fehler Zemps hinwegsehen, dass es ja gerade das Erstaunliche ist, dass nicht eine Schneeflocke in ihrer Struktur einer anderen gleicht.

Wir spannen noch das Nichts in einen Rahmen - das Fenster genau ist jener Rahmen, in den wir das Nichts, nämlich die Schneeflocken, die verlöschen, spannen. Gewiss aber weist - und diese Doppelsinnigkeit verleiht dem Gedicht seine Tiefe - dieser Rahmen und das Nichts auf uns Menschen, deren Tun Ähnlichkeit haben mag mit der Tatsache, dass wir meinen, noch das Nichts in einen Rahmen spannen zu müssen (wie so manches), ein Nichts, das vielem, was wir tun, entspricht und dem Nichts der Schneeflocken gleicht. -
Was sich gewiss nicht verallgemeinern lässt: Ein Goethe hätte diesem Satz nicht zugestimmt, zu Recht, wenn man auf sein Leben schaut. Aber der große Alte aus Weimar war auch eine Ausnahme, an der sich durchaus wieder mehr Menschen auf- und ausrichten sollten.

Der Schluss des Gedichtes bleibt offen, lässt aber vermuten, dass diese Ausrichtung für das lyrische Ich nicht gilt. Ob dieses Gedicht eine Seite von Werner Zemp wiedergibt, weiß ich leider nicht, es könnte durchaus sein, zu überzeugend ist mir dieses Gedicht geschrieben.