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Donnerstag, 27. April 2017

Elsa fehlt. - Bad Kissinger Tragödien und Rilkes "Der Schwan".

Oft, wenn ich an der Saale Richtung Hausen laufe, begegne ich der Schwanenfrau. Sie ist vielleicht 60 Jahre und hat eine ganz starke Skoliose, sie kann kaum mehr aufrecht stehen. Aber jeden Tag ist sie am Fluss und füttert vor allem Lohengrin und Elsa. 
Sich mit ihr über Schwäne zu unterhalten, hat einen Haken: Man darf nicht den Anschein erwecken, über Schwäne etwas besser wissen zu wollen als sie. Da widerspricht sie sofort und lässt einen nicht mehr zu Wort kommen. Eine Zeitlang hat mich das echt genervt. Mittlerweile aber mag ich sie so sehr, dass sie reden kann, solange sie will (ändern kann ich es sowieso nicht).
 

Nun fehlt Elsa. Seit Ostern ist sie nicht mehr da. Dabei saß sie schon auf den Eiern im Nest, das wie jedes Jahr mitten in der Saale auf einer Insel gebaut war und letztes Jahr sogar dem Hochwasser getrotzt hatte.

Elsa fehlt, das ist eine Tragödie. Wo doch vor allem ihr Lohengrin sie braucht. Denn auch um Lohengrin gab es schon eine Tragödie.
 

Es war im letzten Jahr, da war die Schwanenfrau auf einmal ganz aufgeregt: Lohengrins Auge war entzündet. Erst war gar nicht klar, ob es überhaupt noch da war. Dann aber sah man es deutlicher: es war noch da, aber rot und vereitert. Eine Meldung besagte, der Sohn der beiden habe versucht, ihn, den Vater, zu vertreiben. Dabei sei wohl das Auge verletzt worden.

Lohengrin ging es Tag für Tag schlechter. Man sah es ihm an. Man sah es der Schwanenfrau an und all denen, die Tag für Tag sich mit ihr trafen.

Und dann war noch so ein arroganter Tierarzt mit seinem Hund dagewesen, der auch nicht die geringste Bereitschaft zeigte, Lohengrin zu helfen. Nicht einmal seinen Hund hatte er zurückgehalten, Lohengrin zuliebe.

Schließlich haben Arbeiter der Stadt, die man verständigt hatte, Lohengrin geschnappt und zu einem menschlichen Tierarzt gebracht. Der musste zwar Lohengrins Auge entfernen, aber nach einiger Zeit, in der niemand so recht wusste, was aus dem Schwan wird, ob er sich wieder erholt und wie er mit dem Verlust klarkommt - schließlich sah er nicht, wenn jemand von der Seite, auf der das Auge fehlte, sich näherte -, erholte sich Lohengrin wieder und auch Elsa, die sich zurückgezogen hatte, weil Lohengrin wohl nur noch mit sich beschäftigt war und erbärmlich abmagerte und unter seinem Auge litt, war wieder bei ihm.

Was war das für eine Freude am Saale-Ufer.

Und nun fehlt Elsa. Sie war es doch, die immer um Lohengrin war und den frechen Sohn, der erneut auftauchte, vertrieben hatte.

Die Schwanenfrau ist traurig und rätselt, was passiert sein könnte. Aber irgendwie hat jeder das Gefühl: Elsa kommt nicht wieder. Nur: freiwillig ist sie bestimmt nicht gegangen. Irgendwas muss passiert sein.

Daran musste ich denken, als ich über eines meiner Lieblingsgedichte schrieb

Es ist schon wahr, Leben kann so müheselig sein und hat so viel mit Sterben zu tun, aber das ist nicht alles. Rilke wusste darum, als er, beeinflusst von dem französischen Bildhauer Rhodin, dem er eine Zeitlang die Buchhaltung führte, bis sich beide Männer entzweiten, das, was ihm begegnete, auf neuere, tiefere Weise sah und jenes Gedicht schrieb, das ich so mag:

Der Schwan

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn,
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen - :

in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehen, Flut um Flut;

während er unendlich still und sicher
immer mündiger und königlicher

und gelassener zu ziehn geruht.
1905/06, Meudon

Wer Gedanken und Anmerkungen zu dem Gedicht lesen möchte: hier




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