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Montag, 22. August 2016

Menschliche Sexualität und der Weg zu einem reicheren Leben.

Auf Freie Welt habe ich einen Post zu Ann-Marlene Hennings Sendung Make love im ZDF veröffentlicht. Wie oberflächlich diese Sendereihe mit ihrem geschäftstüchtigen Drumherum ist und wie sehr sie ihre Zuschauer in eine falsche Richtung lenkt, mag für viele erst auf den zweiten oder dritten Blick - wenn überhaupt - erkennbar sein. Wie sehr musste ich bei meiner Beschäftigung mit dem Niveau dieser Sexologin an das Buch Liebe und Orgasmus des 2008 verstorbenen Arztes, Psychotherapeuten und Begründers der Bioenergetik Alexander Lowen denken, der genauso intime Aspekte menschlicher Sexualität anspricht, aber auf einer ganz anderen Ebene, die erkennen lässt, dass diese immer die Gesamtpersönlichkeit einbeziehen muss, insbesondere den muskulären und vor allem den seelischen Zustand eines Menschen, ja, der sogar deutlich macht, dass die Individualität des Menschen nie losgelöst von ihm als gesellschaftlichem Wesen gesehen werden kann:

Ich kann kein einfaches Rezept für ein befriedigendes und gesundes Geschlechtsleben geben. Die Krise der Sexualität, vor der wir in dieser Zeit stehen, erfordert für ihre Lösung einige große Veränderungen im Denken und in der Einstellung. Eine neue persönliche und soziale Ordnung muß entstehen, die auf die richtige Einschätzung der Wahrheit des Körpers gegründet ist. Die Ehrfurcht des Menschen angesichts der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten des menschlichen Geistes sollte ihn nicht veranlassen, den Respekt vor der unendlichen Weisheit des Körpers zu verlieren. Die wissenschaftliche Sexologie darf, wenn sie hilfreich sein soll, gegenüber dem Mysterium der Liebe, das im Innersten des Geschlechtsaktes liegt, nicht blind sein.

Ich möchte behaupten, dass allein diese Worte zeigen, dass die ZDF-Sendung, deren 4. Staffel 2016 lief, in dem, was sie suggeriert, den Menschen im Grunde blind macht. 
Lowen beschreibt sehr genau den Verlauf des Orgasmus und geht sehr dezidiert auf Formen der Impotenz bei Mann und Frau sein, suggeriert also damit nicht, das Ganze sei mit den Methoden Frau Hennings so locker und leicht behebbar. 
Wenn ich Lowen hier nicht im Zusammenhang mit Details direkt sexueller Probleme zitiere, sondern eine Passage wiedergebe, in der er auf die Bedeutung der Wahrnehmung des Körpers eingeht, dann deshalb, weil ich damit ermöglichen möchte zu erkennen, wie oberflächlich und seicht und in eine mentale und seelische Sackgasse führend die Rezepte der Frau Henning sind (am Freitag dann, wie gesagt, mehr).

Hier aber nun aufschlussreiche Gedanken Lowens aus seinem leider nur noch antiquarisch erhaltbaren Buch, die wichtig sind, um Sexualität wirklich in das Gefüge von Körper, Seele (also auch Gefühlen) und Geist einordnen zu können:

Wenn ein Mensch die Verspannungen, Starrheiten und Ängste seines Körpers nicht fühlt, verleugnet er in diesem Sinn die Wahrheit seines Körpers. Diese Verleugnung findet auf der Ebene des Unbewussten als ein Verlust der Wahrnehmung des körperlichen Zustandes statt. Sie ist häufig davon begleitet, dass der entgegengesetzte Zustand oder das entgegengesetzte Gefühl ausgedrückt wird. Zum Beispiel tarnen Patienten oft ein Gefühl der Traurigkeit durch gezwungenes Lächeln, was zur Folge hat, dass sie das Gefühl der Traurigkeit gar nicht bemerken. Andere Patienten verdecken die Feindseligkeit, die sich in ihren kalten, harten Augen und zusammengebissenen Zähnen manifestiert, durch übertriebene Höflichkeit und Förmlichkeit.
Die Wahrheit des Körpers kann hinter Rationalisierungen oder Intellektualisierungen versteckt sein. Ein Patient rationalisiert vielleicht seine Unfähigkeit, Wut zu äußern, indem er sagt, Wut sei keine angemessene Reaktion. Die Wahrheit kann für diesen Patienten sein, dass er wegen chronischer Verspannungen im Schultergürtel gar kein Gefühl der Wut mobilisieren oder aufrecht erhalten kann. Orgasmus ist ein Gefühl des Körpers, das Liebe zum Sexualpartner ausdrückt. Orgastische Impotenz weist auf eine Angst vor der Liebe auf der Ebene sexueller Reife hin. Wie viele Menschen sind sich dieser einfachen Wahrheit des Körpers bewusst?
Das Gefühl, das Herz „öffne“ sich der Liebe, ist eine Wahrheit des Körpers. Es mag nicht mit der naturwissenschaftlichen Ansicht übereinstimmen, das Herz mit der Liebe in Verbindung zu bringen. Aber die Naturwissenschaft ist ja auch nicht an Gefühlen interessiert, nur an Mechanik. Wenn Menschen ohne jede körperliche Empfindung von Liebe sprechen, reden sie von Vorstellungen, nicht von Gefühlen. Manchen Menschen fällt es schwer zu sagen, Ich liebe dich, weil ihnen dieses spezifische Gefühl fehlt. Andere benutzen Wörter ohne Rücksicht auf die körperlichen Gefühle, auf die sie hinweisen. In ähnlicher Weise sprechen Menschen von sexuellem Verlangen, ohne einen starken sexuellen Drang zu verspüren. Was sie meinen, ist, dass sie wollen, ein sexueller Kontakt solle ihnen das Gefühl geben, lebendig und erregt zu sein. Diese Trennung von Liebesworten vom sexuellen Gefühl ist charakteristisch für die Sinnlichkeit, wie sie im 10. Kapitel beschrieben worden ist. Der Ausspruch Ich liebe dich bedeutet oft, Ich brauche dich, und ist eher eine Bitte um Liebe als eine Kundgebung eines Körpergefühls.
Die Vorstellung, das Herz sei der Sitz der Liebe, hat etwas mit der Frage der orgastischen Potenz zu tun. Bei allen Neurotikern stellt man fest, dass die Wand des Brustkorbs äußerst angespannt ist. Außerdem ist das Zwerchfell kontrahiert, der Bauch ist eingezogen und die Schultern sind unnachgiebig. Das Herz ist buchstäblich in einen Muskelpanzer eingeschlossen, der es zwar schützt, es aber auch von den Empfindungen im Genitalbereich isoliert. Diese „Panzerung“ erklärt, warum die sexuellen Empfindungen auf die Geschlechtsorgane beschränkt sind und sich nicht in einer vollständigen orgastischen Reaktion auf den ganzen Körper erstrecken.
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Selten stellt sich ein Mann, dessen Erektion entweder vor dem Geschlechtsverkehr oder währendessen nachlässt, ehrlich dieser Reaktion. Die üblichen Bemerkungen lauten nach Aussage der Partnerinnen:„Das ist mir noch nie passiert“, „Das versteh´ ich nicht“ oder „Nächstes Mal wird´s schon klappen.“ Die Wahrheit, wie der Körper sie ausdrückt, ist, dass er das Verlangen nach seiner Partnerin verloren hat. Das kann aus Angst, Schuldgefühlen oder Furcht geschehen. Er fühlt sich vielleicht unbehaglich in der Situation, hat Angst, dass das Mädchen eine Dauerbeziehung erwartet, ist besorgt, ob er die Partnerin befriedigen kann usw. Ich bin sicher, dass jeder Mann auf irgendeiner Ebene des Gewahrseins seine wahren Gefühle spürt. Wenn er sie akzeptieren und äußern kann, ist der Konflikt lösbar, und seine Potenz wird zurückkehren. Wenn wir uns fürchten, der Wahrheit ins Auge zu sehen, wie sie unser Körper oder die körperlichen Empfindungen ausdrücken, machen wir Ausflüchte, verstellen uns und nehmen eine Pose ein.
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Der Weg zu einem reicheren Leben geht gewiss über ein vollständigeres Erleben des Körpers und seiner Sexualität. Ich will nicht behaupten, es sei der einzige „Weg“, aber es ist eine brauchbare Lebensweise, die die antithetischen Funktionen der Persönlichkeit des Menschen synthetisiert.
Ich habe unterstrichen, dass sexuelle Reife kein Ziel, sondern eine Lebensweise ist. Der sexuell reife Mensch hat den Mut, sich der Wahrheit seines Körpers zu stellen; infolgedessen respektiert er seine Gefühle und sich selbst. Er respektiert ebenfalls seinen Sexualpartner, Menschen im Allgemeinen und das Phänomen des Lebens, in welcher Form es sich auch manifestiert. Seine Selbst-Annahme umfasst das, was er mit allen Menschen gemeinsam hat: das Leben, die Freiheit und den sexuellen Impuls. Wer sich selbst hasst, hasst seinen Körper und die Körper anderer Leute. Indem der reife Mensch sein Recht auf sexuelles Glück geltend macht, gesteht er anderen das gleiche Recht zu. Er hat das, was ich ein „offenes Herz“ nenne. Weil sein Herz offen ist und nicht verschlossen, gibt sich der sexuell reife Mensch denen ganz, die er liebt. Dafür liebt und achtet jeder den Menschen mit einem offenen Herzen. Er ist mit dem Herzen bei seinen Tätigkeiten, und er wird durch ihre Ergebnisse ganz erfüllt und befriedigt. Er ist natürlich orgastisch potent. Ich habe solche Menschen gekannt, und sie haben mein Leben bereichert. Durch sie wird mein Glaube an Menschen gerechtfertigt.
Der Mensch mit einem „verschlossenen Herzen“ fürchtet sich zu lieben. Letzten Endes ist es diese Furcht, die ihn neurotisch handeln lässt. Er kennt die Bedeutung der Liebe, und er ist sich seines Bedürfnisses zu lieben bewusst, aber er kann dem Gefühl der Liebe sein Herz nicht öffnen. Er ist gewiss nicht so auf die Welt gekommen. Solche Menschen bekomme ich ständig in meiner Praxis zu sehen. In jedem Fall ist in der Vorgeschichte eine Liebesenttäuschung in der frühesten Kindheit zu finden. Patienten erinnern sich, wie sie als Babies nach der Mutter geschrien haben, die nicht kam. Manchmal wird dies durch einen Elternteil bestätigt. {...} Manche erinnern sich an die Vorstellung von einer „bösen Mutter“, deren Gereiztheit über die scheinbar endlosen Forderungen des Säuglings sich in barschem oder feindseligem Verhalten äußerte. Die Kombination von wiederholten Enttäuschungen und Angst erzeugt eine Abwehr gegen weitere Verletzungen. Diese „Abwehr“ nimmt die Form einer Panzerung an, die sich körperlich in einer chronischen Verhärtung der Brustmuskulatur ausdrückt. Das Herz wird „verschlossen“, indem es in einem starren Thoraxkäfig eingesperrt wird, der wiederum die Atmung einschränkt und das Fühlen hemmt. Jeder neurotische Patient leidet an einer Atemstörung, die von chronischen Verspannungen in der Wand des Brustkorbs und im Zwerchfell herrührt. Psychisch äußert sich das „verschlossene Herz“ in der Einstellung:„Ich werde dich lieben, wenn du mich liebst.“ Bedingungen sind Versagungen. Der neurotische Mensch kann nicht lieben, projiziert aber seine Unfähigkeit auf andere.
Es gibt keine rasche und einfache Methode, neurotische Störungen zu überwinden. Um ein „offenes Herz“ zu bekommen, muß sich ein Mensch in sich selbst sicher genug fühlen, um Enttäuschung zu riskieren, und stark genug, um der Angst vor dem Alleinsein ins Auge zu sehen. Er muß all die neurotischen Konflikte lösen, die das Gefühl des eigenen Selbst spalten und seiner vollen Identifizierung mit seinem Körper im Wege stehen. Und er muß die kulturelle Tendenz überwinden, das Ich vom Körper und die Liebe von der Sexualität zu trennen. Das ist nicht leicht; es ist ein langer, mühseliger Prozeß und führt nicht immer zum vollen Erfolg. Aber Gesundheit und Glück sind der Mühe wert.

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