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Sonntag, 10. Juli 2016

"Was wirst du tun Gott, wenn ich sterbe?" - Als Rainer Maria Rilke sich beinahe mit Gott verwechselte.

 Liebe Leserin, lieber Leser, ich habe den im folgenden Post dargestellten
Inhalt unter der Überschrift Geh Deinem dunklen Gott entgegen vor allem
auch in Bezug auf das Leben Rilkes hier ausführlicher dargestellt -
falls Du Interesse hast.


Bad Kissinger Stationenweg

Eigentlich wollte ich mich einem Rilkeschen Sonett aus den 1922 geschriebenen Sonetten an Orpheus widmen. Dann aber kam ich, wie so oft, vom Hundertsten ins Tausendste, und solche Prozesse sind manchmal sehr ergiebig. Genau weiß ich nie, wo sie enden. Diesmal aber endeten sie bei einem Ergebnis, das bisher offensichtlich nicht möglich war: Ich ließ es zu, mir bewusst werden zu lassen, dass es eine Phase im Leben Rilkes gab, in der er sich nachgeradezu auf eine Höhe mit Gott stellte und dass dies einem Verhalten korrespondiert, wie wir es noch heute bei manchen religiösen Menschen, vor allem aber Esoterikern finden.

Was ich meine, spiegelt ein Gedicht aus Rilkes Stundenbuch wieder:


Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)

Bin dein Gewand und dein Gewerbe,
mit mir verlierst du deinen Sinn.

Nach mir hast du kein Haus, darin
dich Worte, nah und warm, begrüßen.
Es fällt von deinen müden Füßen
die Samtsandale, die ich bin.

Dein großer Mantel lässt dich los.
Dein Blick, den ich mit meiner Wange
warm, wie mit einem Pfühl, empfange,
wird kommen, wird mich suchen, lange -
und legt beim Sonnenuntergange
sich fremden Steinen in den Schoß.

Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange.

Zur Zeit des Verfassens des Stundenbuchs, um also die Wende zum 20. Jahrhundert, gab sich Rilke der esoterischen Strömung seiner Zeit hin (die wir in dieser Ausprägung auch heute noch finden), dass man Gott mit dem eigenen Bewusstsein, aus der eigenen Seele heraus  erfahren könne, dass womöglich nur eine dünne Wand einen selbst von Gott trenne und Gott als anthropomorphe Gestalt, als quasi menschliche Gestalt also (nur eben unmateriell geistig), von uns erfahrbar sei (vielleicht ist das für manchen der Fall; niemand möge sich von mir in dieser Hinsicht beeinflussen lassen; viele Künstler zu Rilkes Zeit, gerade auch bildende Künstler, waren übrigens in großem Ausmaß sehr spirituell, nicht in kirchlichem, in esoterischen Sinne, ja sie waren, wie auch Rilke, auf okkultem Gebiet durchaus aktiv - dazu ein andermal mehr).

Obige Sicht spiegelt auch jenes Gedicht, 1899 verfasst, aus dem Stundenbuch wieder:

Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal
in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, -
so ists, weil ich dich selten atmen höre
und weiß: Du bist allein im Saal.
Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,
um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.
Ich bin ganz nah.

Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,
durch Zufall; denn es könnte sein:
ein Rufen deines oder meines Munds -
und sie bricht ein
ganz ohne Lärm und Laut.

Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.

Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.
Und wenn einmal in mir das Licht entbrennt,
mit welchem meine Tiefe dich erkennt,
vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen
Und meine Sinne, welche schnell erlahmen,
sind ohne Heimat und von dir getrennt.

Liest man diese Gedichte - und von der Rilke-Gemeinde werden sie entsprechend ehrfurchtsvoll aufgenommen -, dann mag man sie spontan also als eine mögliche Annäherung an Gott empfinden.
Mir jedenfalls ist es so gegangen.
Wenn man denn Gott als existent annimmt - und aufgrund meiner religiösen Erziehung hatte ich nie eine Wahl (und ich bin immer noch dankbar dafür) -, wechseln die Verhältnisse zu und die Sichtweisen auf Gott in regelmäßigen Abständen (bei mir jedenfalls ist es so): Mal ist er nahezu unerreichbar, mal darf er fast dankbar sein, dass er durch die Augen der Menschen - also auch meine - seine Erde anschauen darf.

Letzteres Gedicht hat mich immer sehr bewegt. Ich fand Rilkes Worte mutig und suchend zugleich und fand, dass Rilke Gott etwas brauchen lasse, eine durchaus kesse, aber in ihrem Suchen legitime Form der Annäherung an ihn (das muss er schon aushalten). Seltsamerweise aber habe ich mich immer davor gedrückt zu schreiben, wie sehr doch offensichtlich Rilke sich selbst in Gott hineinprojiziert. Sicherlich ist es Rilke selbst, der sein Atmen nicht hört und der sich allein im Saal fühlt, der sein Atmen und das Atmen Gottes auf eine Stufe stellt. Das hat schon Züge von Blasphemie. Gottes Atmen verlieh schließlich erst jener ursprünglichen Lehmgestalt wahres menschliches Sein; wir erinnern uns der mosaischen Schöpfungsgeschichte. Solches Atmen ist doch von unseren Atemnöten manche Elle entfernt.
Manchem Rilke-Verehrer mag das ketzerisch erscheinen, aber sein Tonfall dünkt mich nicht so weit von der Wortwahl Mephistos zu Beginn des Faust entfernt , als jene Satansgestalt äußert: Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern / Und hüte mich mit ihm zu brechen . . .

Im Rahmen von Rilkes spirituell orientierten Äußerungen und okkulten Aktivitäten finden sich meines Erachtens schon deutliche Ausschläge von Selbstüberschätzung, ein Kennzeichen mephistophelischer Gesinnung. Vielleicht haben ihn seine okkulten Erlebnisse dazu verleitet. Die Wand zwischen der anderen Seite der Natur, wie er es selbst formulierte, dem Reich der sogenannten Toten und der Geister also, war für einen Rilke doch sehr dünn; seine Briefe, u.a. an die Fürstin von Thurn und Taxis, geben davon Zeugnis. Diese hohe spirituelle Sensibilität hat er mit vielen Künstlern gemein.

Umso aufschlussreicher war es für mich, zu lesen, dass er sich ca. 7 Jahre nach der Stundenbuch-Phase (geschrieben von 1899-1903) von seiner Distanzlosigkeit im Verhältnis zu Gott, wie sie obige Gedichte spiegeln, distanzierte. Allerdings war seine Sicht auf Gott und sein Verhältnis zu ihm immer vielschichtig gewesen, auch schon im Stundenbuch (Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, / und ich kreise jahrtausendelang . . .) Zumal niemand meinen Worten entnehmen möge, ich würde Rilke verurteilen (was mir gar nicht zusteht). Rilke hat sich selbst immer als Suchenden gesehen, und im Rahmen unserer Suchen befinden wir uns nun mal im tiefsten Wald oder auf freiem Feld, mal in tiefster Nacht oder (zu) nahe der Sonne - Ikarus lässt grüßen.

Vergessen wir nur nicht:

Wir stehen am Strand des Meeres und hören sein Rauschen und sagen: Das ist das Meer! 
Aber was wir hören, ist nicht das Meer. Es ist ein klitzekleiner Ausschnitt des Meeres an einem belanglosen Strand und was wir hören, ist ein Rauschen an der Oberfläche im Rahmen dieses Ausschnittes.
Das Meer bis in seine Tiefen, die Weltmeere bis in ihre Tiefen hinein zu vernehmen, ist uns unmöglich.

Von Gott zu reden, gleichsam wie mit einem Vertrauten, entspricht oben angesprochenen Verhältnis zum Meer.
Was wissen wir vom Meer, seinem Rauschen in allen Tiefen?
Was wissen wir von Gott? 

Wie also mit ihm umgehen? 

Oft bin ich ratlos.

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