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Freitag, 20. Juli 2012

So müssen manche Kinder die Seele ihrer Eltern empfinden: voller Gerümpel, verstellt, verfahren. – Kafkas bezeichnende Kurzgeschichte "Heimkehr"

Einer der Kernsätze des Hermes Trismegistos, des ersten Alchemisten in der Geschichte der Menschheit lautet:

Wie oben so unten

Wir finden diese Aussage unter anderem im Vater unser wieder, wenn es dort heißt: wie im Himmel so auf Erden.

Abgewandelt, aber genauso wahr, lautet der Kernsatz des dreimalgrößten Hermes:

Wie innen so außen. 

Die Wahrheit dieses Satzes finden wir in Kafkas Werk gespiegelt, ist es doch mit seinen vielen halbdunklen und verstaubt-verdreckten Örtlichkeiten, mit seinem Personal, das zu keinen klaren Handlungen fähig ist, vor allem den kaputten Frauengestalten, die seine weibliche Seite darstellen, ein Spiegel seines Inneren, seiner Seele, ein Spiegel seiner Hoffnungslosigkeit, einer inneren Dunkelheit und Aussichtslosigkeit, ein Spiegel seines Verhältnisses zu Vater und Mutter.

Ganz besonders wird dies in seinem Roman Der Prozess und seiner Kurzgeschichte Heimkehr sichtbar.
Letztere lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen verstehen. Auf eine - wie ich finde, sehr wichtige - möchte ich im Folgenden hinweisen, doch zunächst die Kurzgeschichte selbst:
Nicht von ungefähr gilt für die göttliche Wirklichkeit, dass sie ein Kosmos ist, eine Ordnung, ein Schmuck, wie die Übersetzung des griechischen Wortes lautet. Im Göttlichen ist alles an der richtigen Stelle, alles hat seine Bedeutung, nichts ist überflüssig. Das zeichnet göttliche Räume aus, innen und außen, dass alles seinen ihm ureigenen Wert und damit auch seine ureigene Bedeutung hat. Deshalb reinigt Jesus den Tempel, der für die Seele des Menschen steht, zu Beginn seiner beispielgebenden Seelenreise.
Wenn die Seele des Menschen sich so präsentiert, wie es hier im Haus der Vater-Seele ausschaut, dann kann man dem Sohn nur alles alles Gute wünschen auf dem Weg zum wahren Vater. 

Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinanderverfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht, an der Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.
Thematisiert wird hier eine Ankunft, die kein wirkliches Ankommen beinhaltet. Was dem Sohn vielleicht nur unbewusst klar sein mag, ist, dass die Örtlichkeit auch die Seele seines Vaters spiegelt, denn immer erkennen wir an der Wohnsituation eines Menschen auch Züge seines Inneren, sicherlich nicht im Verhältnis 1 : 1, aber niemand, dessen Seele Licht liebt, zieht in eine Wohnung, die nicht einmal am Tag von der Sonne beschienen wird.
Manche Wohnung, mancher Keller erinnert an ein unsortiertes Ersatzteillager. Nicht von ungefähr.

Wenn wir  uns auf diesem Hintergrund die Kurzgeschichte Kafkas anschauen, wie da von altem, unbrauchbarem Gerät die Rede ist; das Tuch ist zerrissen und alles Mögliche ist ineinanderverfahren, dann wird klar, wie es dem Ankömmling gehen muss: Er zweifelt. Zweifel bedeutet, aus dem Mittelhochdeutschen abgeleitet: zwiegespalten, zerrissen.
Auf den Sohn wartet eigentlich eine Herkules-Aufgabe, wenn er den wahren Vater finden will; denn den findet er vor allem über den leiblichen Vater: wie oben so unten.

Wie wir der Kurzgeschichte entnehmen, könnte das Ende nicht gut aussehen. Der Sohn gelangt nicht einmal ins Zentrum des Hauses, er erlebt den Vater nicht ... wenn er überhaupt da ist ...
Wenn ein Kind seine Eltern, seinen Vater nicht einmal in dessen eigenem Haus findet, weil jener nicht bei sich ist, dann ist wirklich guter Rat teuer.

Dann hilft nur eines: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn.

Da kommt der Vater dem Sohn sogar entgegen!

Deshalb ist diese Bibelgeschichte so wertvoll.

zu einem weiteren wichtigen Aspekt von Kafkas Heimkehr: hier

Mittwoch, 4. Juli 2012

Dafür, wie Du die Knie biegst ... – Hans Magnus Enzensbergers "Kopfkissengedicht"

Ich mag diesen Mann, wie er zu seiner Vergangenheit steht, dazu, dass er sich Widersprüche erlaubt und Wandlung, wo andere top-lineares Verhalten erwarten, dass er anstelle von Memoiren, die 80-Jährige doch sonst herausgeben, seine Art von Memoiren Meine Lieblings-Flops nennt und von ihnen erzählt anstelle von Erfolgserlebnissen, weil er weiß, dass er, wie er selbst schreibt, nur wenigen Erfahrungen so viel verdankt wie ihnen; 
wie er mit Gefühlen umgeht, wie er ihnen als einer der Parade-Intellektuellen dieses Landes, zu dem ihn manche stilisieren wollen - ihre selbstverständliche Berechtigung gibt;
wie er dichtet und sich auf den Weg zur Liebe begibt - ich habe es schon in Befragung um Mitternacht bewundert,
das alles finde ich groß; 
und an dem folgenden Gedicht, das ich Liebesgedichte für Frauen, erschienen im Insel-Verlag, entnommen habe, finde ich bemerkenswert, dass nicht ein einziges Mal Liebe buchstäblich beim Wort genommen wird und sie doch in jedem Satz präsent ist - und wie! Für mich ist das wirkliche Kunst:


          Kopfkissengedicht

Dafür, dass du bis in die Fingerspitzen 
anwesend bist, daß es dich verlangt, 
dafür, wie du die Knie biegst 
und mir dein Haar zeigst, 
für deine Temperatur 
und deine Dunkelheit; 
für deine Nebensätze, 
das geringe Gewicht der Ellenbogen 
und die materielle Seele, 
die in der kleinen Mulde 
über dem Schlüsselbein schimmert; 
dafür, dass Du gegangen  
und gekommen bist, und für alles, 
was ich nicht von dir weiß, 
sind meine einsilbigen Silben  
zuwenig, oder zuviel.


Dieses Gedicht ist wie ein lang gespannter Bogen, an dessen Ende man doch, wie schon zuvor angedeutet, erwarten sollte, dass da nach den vielen dafür und für steht: für all das ........... liebe ich Dich. 

Nein, es steht etwas ganz anderes. Das lyrische Ich liebt nicht, jedenfalls steht das nicht da, sondern es spricht von seinen einsilbigen Silben. 
Für alles, was es, das Ich, der Mann, mit seiner Liebe erlebt hat, sind sie zuwenig.

Gut, das kann man noch verstehen.
Die ganz natürliche Bescheidenheit eines Mannes eben  :-))

Oder seine einsilbigen Silben sind zuviel.
Angemessener wäre es zu schweigen?

Kann wohl sein.

Was mich einfach beeindruckt, ist, wie das lyrische Ich seine Liebe zum Ausdruck bringt:

durch die Qualität dessen, was es beobachtet.

Wie es dadurch die Frau, die er, der Mann, liebt, im Licht der Liebe leuchten lässt.

Oder hat jemand schon mal darauf geachtet oder darüber geschrieben, wie eine Frau die Knie biegt?
Wie sie Nebensätze bildet?
Wie gering das Gewicht ihrer Ellenbogen ist?

Hat jemand schon einmal in der kleinen Mulde über dem Schlüsselbein ihre materielle Seele gefunden?

Wem solche Dinge auffallen,
wer diese so eigentlich unauffälligen, noch nicht gesagten Dinge so zärtlich im Tonfall anspricht:
der liebt.

Mit oder ohne einsilbige Silben.
Mit oder ohne Worte.



Danke jedenfalls, Hans Magnus Enzensberger, für Deine einsilbigen Silben.




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