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Sonntag, 20. Mai 2012

Der Himmel weiß von den Wunden der Erde.


Den Hinweis darauf, um was es im Folgenden geht, verdanke ich einer früheren Freundin und das war bezeichnend für sie, bezeichnend also für einen besten Freund oder eine beste Freundin, wenn man sie haben darf, dass sie immer weiß, intuitiv, was mir gerade gut tut, ja, was ich brauche.
So war es auch hier.
Es war ein Hinweis auf eine evangelische Morgenfeier auf Bayern1.
Durch sie ist mir etwas bewusst geworden, was ich eigentlich schon wusste, im Kopf - nun ist es ins Herz gewandert :-))
Würden doch mehr Menschen kapieren wollen, dass es Bilder in der Kunst, in der Bibel, in den Märchen, in den Mythen überhaupt gibt, die Seelenbilder sind, weil sie einen Zustand der Seele zum Ausdruck bringen, der für uns alle gilt und dessen Verstehen uns so viel weiterbringen kann auf dem Weg zu uns. Solche Bilder haben eine unglaubliche Heilkraft, vor allem dann, wenn sie von Menschen erläutert werden, die den Bildern ihre Bild-Kraft nicht nehmen; dann nämlich ist Herzens-Bild-ung möglich.
Die Bibel ist voll von solchen Bildern. Schade, dass Menschen so sehr die real existierende Kirche und die Bibel in einen Topf werden.
Obwohl immer wieder auch aus dem Raum der Kirche Wertvolles kommen kann.
So war es auch hier und es hat mir sehr weitergeholfen.
Eine Pastorin, Frau Melitta Müller-Hansen, die mich schon einmal mit ihren Worten beeindruckte, sprach über die Bedeutung von Himmelfahrt. Und wenn ich im Folgenden zwei Passagen zitiere, so mögen der Bayrische Rundfunk und sie nachsichtig sein; eigentlich sind sie nur zum privaten Gebrauch bestimmt.
Gegen Ende ihrer etwas mehr als zwanzigminütigen Ausführungen, die ich wirklich empfehlen möchte - den Podcast, also die Aufnahme, die man anhören kann, habe ich hier verlinkt -, verwies sie auf einen Tatbestand, der mir neu war und der hochinteressant ist:
Rembrandt, der sein Bild Christi Himmelfahrt um 1636 malte und das erfreulicherweise in Deutschland, nämlich in der Münchner Pinakothek, angesehen werden kann, zeichnete den Auferstehenden mit seinen Wundmalen an den Händen, jenen Wundmalen, die er am Kreuz erlitt.
Ob ihn seine Jünger so gesehen hatten? Ob sie die Wundmale gesehen haben? Die Bibel erwähnt das nicht.
Rembrandt aber sah sie, er sah sie sicherlich mit seinen inneren Augen und die Worte Melitta Müller-Hansens wissen zu vermitteln, wie wichtig es für jeden Menschen ist, dass er den zum Himmel Auffahrenden so gemalt hat.

Sie fragt: Was bedeutet es, dass ein Gekreuzigter in den Himmel eingeht und herrscht über die Mächte der Welt? Was bedeutet es, dass Wundmale Teil des Himmels werden, dass kein Unversehrter, sondern ein Gezeichneter und Geheilter den Himmel prägt? Es sagt etwas Neues über Gott und Himmel. Der Himmel weiß von den Wunden der Erde. 
Den letzten Satz finde ich eine Wucht.
Aber es kommt noch ein Punkt, der mir noch wichtiger erscheint - mit den Worten der Pastorin:
Jesus schickt die Jünger zurück nach Jerusalem. Dort werden sie die Kraft des heiligen Geistes empfangen. In Jerusalem. Hier haben die Menschen den Sohn Gottes ausgestoßen, hier haben die Jünger das Trauma von Verrat und Verfolgung erlebt. Hier sind sie weggelaufen, hier haben sie den Freund im Stich gelassen – und dahin sollen sie zurückkehren ...
An den Ort zurückzukehren, an dem man verletzt wurde, traumatisiert wurde, gehört vielleicht zum Schmerzhaftesten und Mutigsten, wozu ein Mensch in der Lage ist. Wir haben einen instinktiven Drang in uns, das zu vermeiden, so lange es geht.

Wo ist der Ort, der uns möglicherweise am meisten Schmerzen bereiten kann?
Bei vielen mag er das eigene Innere sein.
Aus diesem Jerusalem sind wir immer wieder in unserer Kindheit vertrieben worden. Manche für immer. Denn immer dann, wenn Eltern, Lehrer ... wer auch immer ... Kinder verletzen, zielen sie auf deren Inneres. Dort treffen sie die Kinder hundertprozentig. Manchmal - und zu oft - ganz bewusst.
Dann geschieht es, dass wir auf immer unser Innerstes verlassen.
Manche Kinder - und ich glaube, ich habe auch zu ihnen gehört - verlassen ihr Inneres irgendwann, damit sie dort nicht mehr verletzt werden können.
Eine traurige, eine schreckliche Wahrheit.
Aber eine Kraft, die Christen als Jesus bezeichnen, schickt uns zurück in unser Inneres, an den Ort unserer Verzweiflungen, unserer Niederlagen, an den Ort unserer tiefsten Verletzungen.
Nur hier empfangen wir einen Geist, der uns heilen kann, die Bibel nennt ihn den Heiligen Geist, nichts anderes ist er, als der Geist der Liebe, der Liebe zu uns selbst.
Nur hier ist Heilung möglich.
Und wer es so religiös nicht brauchen kann, der mag es säkularer ausdrücken, psychologisch, wie auch immer - die Tatsache bleibt die gleiche: 
Wenn wir heil werden wollen, schickt uns eine Kraft nach innen und sagt: 
Warte da, sei mutig, sei stark, auch wenn Du hier einstmals schwach, vielleicht auch feige gewesen bist, so tief verletzt worden ist.
Niemand muss sich retuschieren, die Wunden müssen nicht schönheitsoperiert, kosmetisiert sein. 
Sie geben Zeugnis im Himmel von unseren Kämpfen. Der Himmel aber ist in uns.
Wo sonst?
Deshalb sind die Wundmale, die Rembrandt gemalt hat, so wichtig.
Jesus bekennt sich zu ihnen.
Nichts anderes heißt das als: Sie sind uns willkommen.
Sie haben uns zurück an diesen Ort geführt.

Bevor Jesus den Blicken entschwindet, sagt er den Jüngern, sie sollten nach Jerusalem zurückkehren, in die Stadt, die auch für seinen Tod steht, für ihre Angst. Wie verkrochen sie sich doch, als Jesus vom Kreuz genommen worden war. Nur Frauen hatten Mut, zum Grab Jesu zu gehen. Die Jünger waren zu feige. Selbst die Römer hatten seine Aussage, dass er auferstehen werde, ernster genommen und sein Grab bewachen lassen.
Zurück an den Ort der Niederlage, das war Jesu Gebot. Dort - und ich darf hinzufügen: nur dort - würden sie wahre Liebe wahr-nehmen können, auf-nehmen können.
Was mir auf dem Hintergrund dieser evangelischen Morgenfeier bewusst geworden ist:
Deshalb ist es so schwer, ins eigene Innere zurückzukehren, weil er ein Ort der Niederlage ist, ein Ort der Verletzung, ein Ort vieler Kindheitstraumen, die oft irreparabel erscheinen, der Verlust bedeutet, Verlust von Heimat und Geborgenheit.
Wir dürfen unsere Wunden zeigen. Im Himmel sind sie willkommen. In uns.
An diesen Ort genau schickt Jesus seine Jünger und dahin genau müssen auch wir gehen, wenn wir Heilung finden wollen, was immer uns da begegnet, an was immer wir da erinnert werden.
Es findet kein Jüngstes Gericht statt. Es findet Heilung statt.
Unsere Verletzungen sind die Eintrittskarte zu unserem Inneren.

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