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Montag, 17. Mai 2010

"anima naturaliter religiosa". – Was das baden-württembergische Abitur 2010 an Bewusstsein voraussetzt.



Ich teile die Ansicht C.G. Jungs, dass die Seele des Menschen von Natur aus religiös sei. Dem Schweizer Psychologen offenbarte sich diese Sicht auf die menschliche Seele, mit der er sich deutlich von seinem Vorgänger Freud distanzierte, für den Religion eine Illusion war, dadurch, dass er erkannte, dass die menschliche Seele in Träumen und in der psychoanalytischen Arbeit, ob sie will oder nicht, religiöse Bilder aus dem Unbewussten in das Bewusstsein steigen lässt, Bilder der Ganzheitlichkeit, Bilder, in denen wir Kreise finden, Symbole der Trinität, Schlangensymbole und Ähnliches. Jung als moderner Alchemist erkannte, was diese Bilder bedeuten. Sie weisen auf den religiösen Urgrund der Seele. Auch ein Atheist kann ihre Auferstehung in seinen Träumen nicht verhindern. Gott sei Dank!


Dass dieses Wissen heute kein Allgemeingut ist, hängt mit dem Herodeskräften zusammen, wie sie die Bibel nennt; die ägyptische Mythologie spricht von der Zerstückelung des Osiris. Osiris wurde verführt durch Typhon. Wir können ihn auch den Herodes Ägyptens nennen. Der Tod des Osiris und seine Zerstückelung, sein Tod symbolisiert die Zerrissenheit des modernen Menschen, der den Typhon-Herodes-Kräften erliegt. Immer noch sucht Isis, die Mutter, ihren Sohn Osiris. Es ist die Suche des Ewig-Weiblichen, von dem Goethe am Ende des Faust II spricht, die so gern unserem Suchen begegnen möchte. Die Liebe dieser Großen Mutter will den Menschen heilen.
Die Symbolik der Mutter hat zu allen Zeiten eine große Rolle gespielt, wir finden sie in der Gestalt der Isis, der Diana, der Sophia, Marias ...
Sie steht im Gegensatz zur Negativ-Macht der Mütter, mit denen sich Faust im Faust II konfrontiert sieht, die ihre Kinder nicht freigeben, im Grunde sie verschlingen. Um ein Haar wäre auch Siegfried diesem Drachen zum Opfer gefallen. Um ein Haar hätte dieser Drachen ihn erdrückt, so wie viele Mütter ihre Kinder erdrücken. Das ist leider eine Realität. Sie findet sich im Bild des Mutterdrachen, ein Thema, von dem bekanntlich das Grimm-Märchen Eisenhans handelt.

Nun finden wir im Abitur 2010 im Rahmen des Gedichtvergleichs zwei Gedichte, deren Thematik in die Richtung einer Liebe geht, wie sie die wahre Mutter symbolisiert. Auf das Gedicht von Volker Braun, Hingebung, möchte ich bei Gelegenheit noch eingehen; ich werde es dann hier verlinken. Dieses Gedicht thematisiert Selbstfindung durch Hingabe, Selbsterfüllung durch Liebe. Ein gewaltiges Thema, vielleicht DAS Thema unseres Lebens.
Das andere Gedicht, Rilkes Die Liebende steigt in die Urgründe unseres Seins, und ich muss sagen, dass die Damen und Herren, die beide Gedichte auswählten, viel Vertrauen in die Kenntnisse ihrer Kollegen hatten, diese Urgründe vermittelt zu haben, damit Schüler in ihrem Abitur darauf Bezug nehmen können.
Sie dokumentierten mit ihrer Wahl zugleich ihre Auffassung von Literatur als Spiegel der menschlichen Seele, die nur zu begreifen ist, wenn wir sie im Sinne C.G. Jungs sehen. Rilke zumindest kann man nur verstehen, wenn man diesen Dichter als zutiefst religiös begreift. Wie hoffnungsvoll hingegeben von meinen Kollegen zu glauben, dieses Wissen und diese Sicht auf die Liebe und das Leben bei den unterrichtenden Kollegen und den Schülerinnen und Schülern voraussetzen zu können; auch die Elternhäuser müssen ja zu dieser Sicht beigetragen haben.

Unter den über 40 Abitur-Arbeiten, die ich dieses Jahr korrigieren "durfte", waren leider nur drei, die den Gedichtvergleich nahmen, aber immerhin eine Schülerin - der Schrift nach war es eine Sie - hat bei der Liebe, wie sie sich im Rilke-Gedicht findet, gesprochen von der Liebe zwischen Seelenpartnern, ein Gedanke, der sich natürlich im Erwartungshorizont des Oberschulamtes nicht findet.
Nun ja, ehrlich gesagt bin ich auch weit davon entfernt zu glauben, dass die Dortigen Literatur so verstehen wie ich und wie ich es oben mir selbst glauben machen wollte. Und ich glaube auch nicht, dass unsere Schulbildung ein Verständnis erreichen will und ein Bewusstsein, dass die Seele von Natur aus religiös sei.
In unserer Bildung geht es mittlerweile vor allem um Präsentation, Portfolio und Mindmap ... Word ist wichtiger als das Wort und Wahrheit zählt vor allem dann, wenn sie als Tabelle kalkuliert werden kann ...
Herodes-Typhon hat alles im Griff. Und beide können beruhigt sein: noch bleibt Osiris zerstückelt.
Dessen ungeachtet erlaube ich mir meinem Unterricht an einer Maxime, an einem Leitgedanken auszurichten, der sich in diesem Worten erfassen und zusammenfassen lässt:

anima naturaliter religiosa.

Samstag, 8. Mai 2010

Was weise klingt, kann waise sein. - Zum Muttertag: Annette von Droste Hülshoffs Lied an ihre Mutter.


So gern hätt ich ein schönes Lied gemacht
Von Deiner Liebe, deiner treuen Weise;
Die Gabe, die für andre immer wacht,
Hätt ich so gern geweckt zu deinem Preise.

Doch wie ich auch gesonnen, mehr und mehr,
Und wie ich auch die Reime mochte stellen
Des Herzens Fluten wallten darüber her,
Zerstörten mir des Liedes zarte Wellen.

So nimm die einfach schlichte Gabe hin,
Von einfach ungeschmücktem Wort getragen,
Und meine ganze Seele nimm darin:
Wo man am meisten fühlt, weiß man nicht viel zu sagen.

 

                                                                                                 Annette von Droste-Hülsfhoff (1797-1848)

Zum Ausdruck kommt, dass die Liebe Annettes zu ihrer Mutter eher ein Ringen um Liebe war, ein Fühlen voller Suchen und Sehnen. Wohl würde sie gerne in der letzten Strophe selbst glauben wollen, sie hätte viel zu sagen "Von deiner Liebe, deiner treuen Weise". Doch wie das Metrum in der dritten Zeile der zweiten Strophe nicht von ungefähr holpert, so holperte auch in der Lebensrealität diese Liebe; genau genommen spricht die Dichterin sogar von Zerstörung.

Wenn sie viel sagen würde, wäre es womöglich ein Sprechen über eine nie gelebte Liebe.
 

Vielleicht hat sich die große Dichterin nie einen realistischen Blick auf die Mutter erlaubt. Im Sich-Finden der Worte im Prozess des Dichtens aus dem Unbewussten heraus zeigt sich die Wahrheit.

Was weise klingt, kann womöglich waise sein.


Dennoch wissen wir: eine Mutterbindung ist immer da, weil nur ein Mutter jene Liebe geben kann, die doch jeder Mensch so ersehnt. Und tief im Inneren mag jedes Kind wissen, dass manche Mutter eben auch nur so lieben kann, wie sie selbst geliebt worden ist.

Annette von Droste-Hülfshoffs Mutter, jene selbstbewusste, in der Familie auch den Vater dominierende Frau, hat zwar erste Verschen von ihrer Tochter gesammelt, tat aber sonst nichts dafür, dass deren Anlagen zur Entfaltung kamen. Annette fand sich später ein in die Rolle einer Reisebegleiterin der Mutter, die, als sich aus der Freundschaft ihrer Tochter zu Sibylle Mertens Ansätze zur Selbständigkeit und Befreiung von der Bevormundung durch die Familie – "freiwillig" erduldete Annette die Zensur ihrer literarischen Werke durch den Bruder – ergeben wollten, die Reise der beiden Frauen nach Italien kurzerhand verbot. Italien, da hätte eine von Grund auf veränderte Frau zurückkommen können; die Mutter mag wohl gewusst haben, wie Goethe durch Italien verändert worden war. - Nichts da!

Die Dichterin blieb der Mutter gegenüber die gehorsame Tochter, pietätvoll und ergeben; in Wirklichkeit öffnete sie sich ihr wohl kaum; wie jedes Kind hätte sie es sicherlich gern getan. In ihrer Kindheit tat sie das ihrer Amme gegenüber, die oft tagelang ihre einzige Ansprache war zusammen mit dem Hülshoffer Hauskaplan Willemsen, und bei ihrer Schwester Jenny.

Vor allem Natur wurde ihr in ihrem Leben zur Mutter; diese erweckte sie so zum Leben, gerade auch in ihrer Dichtung, wie eine Mutter lebendig sein kann: Ihre Mutter, das war die Heimat Westfalen, das Münsterland, dessen Heiden, Moore, Gewässer und Wälder. Dort - und später am Bodensee, in Meersburg (bevor sie ihr selbst erworbenes Fürstenhäusle beziehen konnte, starb sie) - suchte sie jene Geborgenheit, die ein Mensch dringend braucht, wissend, wo ihre Seele Ruhe findet:



Und wieder an des Friedhofs Monument,
Dran Namen standen, die mein Lieben kennt,
Da lag ich betend mit gebrochnen Knieen.
Und - horch, die Wachtel schlug! Kühl strich der Hauch -

Und noch zuletzt sah ich, gleich einem Rauch,
Mich leise in der Erde Poren ziehen.



Zu dieser Mutter, zu Mutter Erde kehrt sie zurück.

Bisweilen/oft/manchmal ist Mutterliebe im Leben der Menschen eine Fata Morgana oder eine Andeutung lebensvoller Möglichkeit; vielleicht auch deshalb ist in Wirklichkeit für einzelne oder viele oder manche Menschen der Muttertag schmerzvoll - ohne dass sie es sich wirklich eingestehen.


Gut, wenn sie es irgendwann tun können.


Mehr über und von Annette von Droste Hülshoff hier und hier

Montag, 3. Mai 2010

Es ist nahezu unmöglich,


einen Mann nicht zu mögen, der Farben nicht nur bemerkt, sondern sie auch anspricht.

Liesel Meminger über Papa Hubermann in Markus Zusaks Die Bücherdiebin

Es gibt in diesem Buch einfach köstliche, treffende, bemerkenswerte, aufrüttelnde Formulierungen - hier einige Kostproben:

Seht ihr?
Selbst der Tod hat ein Herz.
. . .
(...) in dem Moment, in dem du würfelst, weißt du, dass du eine Sieben wirfst - der einzige Wurf, der dich treffen kann (...) tief im Innern weißt du, dass dieses kleine Wechselspiel des Gücks mit dem Finger auf die Ereignisse zeigt, die noch kommen werden. Du versteckst einen Juden. Du wirst dafür bezahlen. Auf die ein oder andere Art.
. . .
Was den Menschen aber erst zum Menschen macht, ist seine Fähigkeit zur Steigerung.
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Sie schaute auf und sah den Himmel niederkauern.
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Ein Mann auf einem Podium verlangte nach Ruhe. Seine Uniform war glänzend braun. Man hatte fast das Gefühl, dass das Bügeleisen immer noch darüber hinwegglitt.
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... ein Schrei, in ein Flüstern gehüllt ...
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Rauch kletterte über Papas Schulter.
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(Der Tod:) Übrigens mag ich die Vorstellung, die sich die Menschen vom Tod als Sensenmann machen. Mir gefällt die Sense. Ich finde sie amüsant.
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Hans Hubermann hatte ein Gesicht aufgelegt, in dem alle Vorhänge zugezogen waren.
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Jeden Abend ging Liesel nach draußen, wischte die Tür sauber und schaute in den Himmel. Normalerweise sah er aus wie verschüttet - kalt und schwer, glitschig und grau. Aber manchmal fassten sich ein paar Sterne ein Herz, erhoben sich und schwebten, wenn auch nur für wenige Minuten. In diesen Nächten blieb sie ein wenig länger draußen und wartete.
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... die Musik blickte Liesel ins Gesicht. Ich weiß, das hört sich seltsam an, aber so empfand sie es.
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(Der Tod über Papa Hubermann:) Er war mir bereits in einem Weltkrieg aus dem Weg gegangen, sollte aber später in einen zweiten geschickt werden (als eine perverse Art von Belohnung), wo er es irgendwie schaffte, sich mir ein weiteres Mal zu entziehen.
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Mit der ihr eigenen Art warf Rosa Hubermann Liesel eines Tages eine Faustvoll Worte entgegen: "Jetzt hör mal zu, Liesel, von heute an nennst du mich Mama."