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Samstag, 5. Dezember 2009

Santa Claus: Eine Geschichte Für Kleine und Große von Tilde Michels zu Nikolaus



Vielleicht sucht ja jemand eine für den Nikolaustag morgen, vielleicht auch für sich selbst :-) - hier eine Geschichte, die Große und Kleine gleichermaßen berührt ... ich hab´s mehrfach ausprobiert :-))
Gefunden hab ich sie kürzlich in Tilde Michels: Das alles ist Weihnachten; München 1981
Und so beginnt sie:

Diese Geschichte hat John Berry vor einigen Jahren in New York erlebt. Er schreibt sie hier auf, genauso wie sie sich zugetragen hat:

Es war wie verhext. Ich konnte einfach keine Arbeit finden. Von Beruf bin ich Installateur, aber ich hätte auch jede andere Stelle angenommen; als Koch oder Ausfahrer oder sonst was.
Drei Monate war ich schon arbeitslos. Ich wohnte in einer kalten verwahrlosten Bude. Wenn ich mich aufwärmen wollte, ging ich in eine Kneipe.
Das war Anfang Dezember. Immer um diese Zeit sind die breiten Prachtstraßen von New York mit bunten Lichterketten überspannt, und aus allen Schaufenstern der Innenstadt glänzt ein Weihnachtszauber von Glitzersternen, Elfen, Zwergen und Spielzeugstädten. Auf dem Platz im Rockefeller Center steht der größte Weihnachtsbaum der Welt. Er ist so hoch wie ein Haus mit zehn Stockwerken, und unter diesem riesigen Weihnachtsbaum gibt es in jedem Jahr eine Schlittschuhbahn.
Aber damals interessierte mich das alles nicht. Ich hatte kein Geld, ich war hungrig und durchgefroren, und ich suchte Arbeit, Jeder Job war mir recht.
So kam es, dass ich Weihnachtsmann in einem großen Warenhaus wurde.

Vor Weihnachten hat jedes Kaufhaus seinen eigenen Weihnachtsmann; in Amerika heißt er Santa Claus. Zu dem gehen die Kinder und flüstern ihm zu, was sie sich wünschen. Der Kaufhaus-Santa-Claus schreibt ihre Namen und Wünsche auf. Später holen sich die Mütter die Wunschzettel ab. Und weil das von den Kaufhausleuten so praktisch eingerichtet ist, kaufen sie auch gleich alles an Ort und Stelle.
Als Santa Claus also saß ich auf einem Weihnachtsthron in der Spielzeugabteilung. Auf alt und würdig geschminkt, mit angeklebtem weißen Bart, rotem Umhang und roter Zipfelmütze. Meiner Stimme gab ich einen tiefen und vollen Klang.
Vor mir standen die Kinder in einer langen Schlange und warteten, bis sie an der Reihe waren.
Die Kleinen glaubten, ich sei der echte Weihnachtsmann; die Größeren natürlich nicht. Die kamen oft nur, um mich zu ärgern. Sie zerrten an meinem Bart, rissen mir die Mütze herunter und flüsterten mir statt ihrer Weihnachtswünsche Schimpfworte ins Ohr.
Scharen von Kindern kamen jeden Tag. Ich habe längst vergessen, was sie sich alles wünschten und wie sie aussahen — nur Paco habe ich nicht vergessen. Sein braunes Gesicht mit den dunklen Augen sehe ich noch genau vor mir.

Eines Abends stand er da. Nicht gläubig wie die Kleinen, nicht übermütig wie die Größeren. Ganz ernst blickte er mich an. Seine Hände hielt er geballt in den Taschen. Er nannte mir seinen Namen und die Straße, in der er wohnte. Sie lag im Norden der Stadt in einem elenden Viertel, wo nur die ärmsten Farbigen leben.
»Mister Santa«, sagte er mit einer rauen Stimme in holprigem Englisch. »Ich brauche Schlittschuh.«
»Schlittschuhe?« fragte ich.
»Ja, Schlittschuh«, wiederholte er. »Größe 6. Direkt am Stiefel festgemacht, verstehst du?«
Ich antwortete nicht gleich.
Paco senkte den Kopf. »Meine Mutter sagt, sie kann die Schlittschuh nicht kaufen. Aber du, Mister Santa... vielleicht kannst du...«
Die anderen Kinder drängten vor. Sie wollten endlich drankommen und schubsten Paco weg. Er wehrte sich nicht.
Auf dem Nachhauseweg kam ich an der Eisbahn unter dem riesigen Weihnachtsbaum vorbei.

Dort sah ich Paco wieder. Seine dunklen Augen folgten den Kurven und Kreisen der Schlittschuhläufer auf dem hell erleuchteten Eis. Die Musik aus den Lautsprechern dröhnte über den Platz.
Es war kalt, und Paco hatte nur einen dünnen Pullover an. Aber er stand unbeweglich und schaute auf die glitzernde Eisfläche.
Als er zum zweiten Mal ins Warenhaus kam, fragte ich ihn: »Paco, warum brauchst du eigentlich Schlittschuhe? Es gibt doch viel nützlichere Sachen.«
Da warf er die Arme in die Luft und sagte: »Mister Santa, Schlittschuhlaufen, das ist...« Er suchte nach Worten und sagte dann nur »das ist schön.«
Er fuchtelte mit seiner kleinen Faust vor meinem Bart herum. »Ich muss Schlittschuh haben, verstehst du? Ich will Bögen machen auf dem Eis, verstehst du?«
Ich sah, dass der Abteilungsleiter uns beobachtete. Er merkte natürlich, dass Paco allein war, dass niemand etwas für ihn kaufen würde. Und ohne lange zu überlegen, flüsterte ich Paco zu: »Komm morgen wieder, Paco. Morgen ist Heiliger Abend, da ist alles möglich ... vielleicht sogar ein Wunder.«
Der Abteilungsleiter trat heran und sagte höflich aber mit deutlichem Tadel: »Santa Claus, da sind noch andere liebe Kinder, die warten.«
Paco ging ohne ein Wort weg.
Am Vormittag des Heiligen Abends — es war mein letzter Tag als Santa Claus — kaufte ich ein paar Schlittschuhe mit Stiefeln Größe 6. Sie kosteten eine Menge Geld. Fast die Hälfte meines Wochenlohns als Weihnachtsmann. Und da fiel mir noch dazu ein, dass es mit den Schlittschuhen nicht genug war, dass Paco auch Eintrittsgeld für die Eisbahn brauchte. Er hatte bestimmt keinen Cent.
Wohl oder übel musste ich ihm noch ein paar Dollar extra in die Stiefel stecken. Ich tat es nicht gern, und ich ärgerte mich dabei über mich selbst. »Total übergeschnappt«, dachte ich. »Die Hälfte eines Wochenlohns für einen fremden Jungen. Wohltätigkeitsfimmel! Weihnachtsmann spielen!«
Trotzdem wartete ich ungeduldig auf Paco.

Aber Paco kam nicht.
Die letzten Kinder waren abgezogen. Das Kaufhaus schloss seine Tore.
Ich legte die Santa-Claus-Verkleidung ab und zog meine eigene Jacke über. Dann ging ich hinaus auf den Platz mit dem großen Weihnachtsbaum. In der Hand trug ich die Tüte mit den Schlittschuhen.
Von der Eisbahn schallte die Musik herüber.
Langsam überquerte ich den Platz. Dann aber begann ich zu laufen, weil ich plötzlich fürchtete, zu spät zu kommen. Ich drängte mich nach vorn an die Eisfläche und suchte die Zuschauerreihen ab ... und da entdeckte ich Paco. In seinem dünnen Pullover stand er wieder dort und starrte auf die Schlittschuhläufer. Die Fäuste hielt er vor den Mund gepresst.
»Guten Abend, Paco«, sagte ich.
Paco blickte zu mir auf. Er erkannte mich nicht. »Wer sind Sie, Mister?«
»Ich komme von Santa Claus«, sagte ich. »Ich mache manchmal Besorgungen für ihn. Er hat auf dich gewartet. Warum bist du nicht gekommen?«
Paco schüttelte den Kopf. »Meine Mutter hat gesagt, es gibt keine Wunder. Für uns nicht.«
Da reichte ich ihm die Tüte mit den Schlittschuhen. »Von Santa Claus«, sagte ich.
Mit offenem Mund schaute Paco in die Tüte. Es dauerte lange bis er begriff, dass die Schlittschuhe ihm gehören sollten.
»Von Santa?« fragte er leise. »Wirklich?«
Er deutete mit dem Kopf hinüber zum Kaufhaus. »Wartet er noch?«
»Es ist schon geschlossen«, sagte ich. »Santa Claus ist fort. — Aber wenn du willst, kann ich ihm sagen, dass du dich freust.«
Paco nickte. Er drückte die Schlittschuhe an sich. Und dann lachte er. Seine kleinen weißen Zähne blitzten aus dem dunklen Gesicht. Alles an ihm leuchtete.
»Jetzt probier ich's«, sagte er.
Dann rannte er zur Schlittschuhbahn.
Nach ein paar vorsichtigen Bögen auf dem Eis drehte er sich noch einmal zu mir um. Er wedelte mit den Armen und schrie: »Ich kann's! Sagen Sie's ihm! Sagen Sie Santa Claus, dass ich's kann! Und — fröhliche Weihnachten, Mister!«
»Fröhliche Weihnachten, Paco«, rief ich zurück.


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