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Mittwoch, 7. Mai 2008

Khalil Gibran, Von den Kindern


Bildverweis zu Tippi Degrè: hier

Und eine Frau, die einen Säugling an ihre Brust drückte, sagte:
Sprich zu uns von den Kindern.
Und er sagte:
Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.
Sie kommen durch euch, doch nicht aus euch,
Und sind sie auch bei euch, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
doch nicht eure Ge­danken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihren Körpern dürft ihr eine Wohnstatt bereiten,
doch nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus der Zukunft,
und das bleibt euch verschlossen, selbst in euren Träumen.
Ihr dürft danach streben, ihnen ähnlich zu werden,
doch versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben schreitet nicht zurück, noch ver­weilt es beim Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebendige Pfeile abgeschnellt werden.
Der Schütze sieht die Zielscheibe auf dem Pfad des Unendlichen,
und Er beugt euch mit Macht,
damit Seine Pfeile umso geschwinder und weiter fliegen.
Freut euch der Beugung, 
die euch die Hand des Bogenschützen aufzwingt;
denn so wie Er den flüchtigen Pfeil liebt, 
liebt er auch den verharrenden Bogen.


Khalil Gibran (1883-1931), Dichter, Philosoph und Künstler, wurde im Libanon geboren und emigrierte in jungen Jahren in die USA. Sein Lebenswerk galt der Versöhnung der westlichen und der arabischen Welt.

Mehr zu Khalil Gibran: Hier und Hier



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